Kino der Moleküle
Elektronenpulse zeigen den Wandel eines Kristalls vom Isolator zum Leiter
Die Bilder aus der Nanowelt lernen laufen: Mit intensiven Elektronenblitzen hat ein internationales Forscherteam um Dwayne Miller, Abteilungsleiter in der Max-Planck-Forschungsgruppe für Strukturelle Dynamik an der Universität Hamburg am Center for Free-Electron Laser Science (CFEL), die Bewegung von Atomen in einem Kristall ionischer Moleküle gefilmt. Das Molekülkino zeigt, wie der Kristall durch den Beschuss mit einem Laser von einem elektrisch isolierenden in einen leitenden Zustand übergeht. Mit den Experimenten belegen die Forscher, dass ihre Methode leistungsfähig genug ist, um biologische Makromoleküle wie etwa Proteine oder den Erbgutstrang DNS bei der Arbeit zu filmen und so biologische Prozesse auf atomarer Ebene besser zu verstehen.
„Es ist ein langgehegter Traum von Wissenschaftlern, der Bewegung von Atomen zusehen zu können, während Materie von einem Zustand in einen anderen wechselt", betont Miller, Abteilungsleiter in der Max-Planck-Forschungsgruppe für Strukturelle Dynamik an der Universität Hamburg am Center for Free-Electron Laser Science (CFEL). „Stellen Sie sich vor, zuschauen zu können, wie zwei Atome eines Moleküls heftig umeinander schlingern und schließlich wegfliegen, also den Tod eines Moleküls und seine Wiedergeburt in zwei neuen Molekülen beobachten zu können. Oder zusehen zu können, wie sich der DNS-Erbgutstrang abwickelt oder sich Liganden von Proteinrezeptoren lösen."
Um dieses Ziel zu erreichen, müssen solche ultraschnellen Prozesse mit einer Zeitlupe gefilmt werden, die Schritte von 0,1 billionstel Sekunden (0,000 000 000 000 1 Sekunden, 100 Femtosekunden) erfassen kann. Außerdem muss die Technik noch Details erkennen können, die kleiner sind als der Abstand der Atome – das entspricht weniger als einem Millionstel der Dicke eines Haars. Die Gruppe um Miller wählte dazu Elektronen als Sonden, die sie an der Universität Toronto (Kanada) mit hoher Energie durch die Materialprobe schossen. Dabei werden die elektrisch geladenen Elementarteilchen an dem Kristallgitter gestreut – es entsteht ein charakteristisches Beugungsbild. Die Kunst liegt darin, dieses oft komplexe Streubild korrekt zu interpretieren.
Ein organisches Salz als optischer Schalter
Auf diese Weise ist es dem Forscherteam 2003 gelungen, einen ersten derartigen Molekülfilm zu erstellen. Dank der Weiterentwicklung der Technik und einer um mehrere Größenordnungen helleren Elektronenquelle können die Forscher nun die Atombewegungen auch in komplexen organischen Molekülen untersuchen. Für die Demonstration der verbesserten Technik durchleuchteten die Forscher einen Kristall aus dem organischen Salz Ethylen-Dioxy-Tetrathiafulvalen (EDO-TTF), der bei Temperaturen knapp über null Grad Celsius seine elektrische Leitfähigkeit verliert. Mit einem intensiven Laserblitz lässt sich jedoch eine molekulare Umorganisation in dem Material auslösen, wodurch es wieder leitend wird. So lässt es sich als optischer Schalter verwenden.
Die Aufnahmen mit der Elektronenkanone zeigen, wie sich die Atome umarrangieren und so die elektrische Leitfähigkeit wieder herstellen. „Es sieht aus wie ein Verkehrsstau an einem Bergpass, wo plötzlich der Berg zusammenfällt und sich eine neue Route für die nachfolgenden Atome öffnet", beschreibt Miller, der im Hamburger CFEL die Abteilung für Atomar Aufgelöste Dynamik (atomically resolved dynamics) der Max-Planck-Forschungsgruppe für strukturelle Dynamik an der Universität Hamburg leitet. Dabei lässt sich beobachten, wie sich die mannigfaltigen Bewegungsmöglichkeiten der Atome auf Bahnen entlang von lediglich drei Koordinaten reduzieren. „Es ist sehr spannend zu sehen, wie sich ein derart komplexes System angesichts all dieser verschiedenen möglichen Bewegungen so einfach beschreiben lässt", betont Miller. „Das lässt uns hoffen, dass wir einfache Regeln finden, um die Struktur und die Eigenschaften von Materie besser zu kontrollieren."
Die Elektronenkanone Regae ermöglicht schärfere Bilder dickerer Proben
Im untersuchten Fall könnten sich mit den gewonnenen Informationen etwa die Materialeigenschaften von ultraschnellen optischen Schaltern verbessern lassen. Die Untersuchung ist nach den Worten der Forscher jedoch nur eine Etappe zu einem noch ehrgeizigeren Ziel: die Anwendung auf biologische Makromoleküle wie etwa Proteine oder den Erbgutstrang DNS. Dabei geht es zunächst um ein besseres Verständnis biologischer Prozesse auf atomarer Ebene. Auf lange Sicht könnten davon jedoch auch medizinische und biotechnologische Anwendungen profitieren.
Für die Untersuchung biologischer Makromoleküle ist allerdings eine leistungsfähigere Elektronenquelle nötig. Die CFEL-Partner Desy, Universität Hamburg und Max-Planck-Gesellschaft haben dafür auf dem Desy-Gelände die Elektronenkanone REGAE (Relativistic Electron Gun for Atomic Exploration) aufgebaut. Regae liefert Elektronen einer höheren Energie, wodurch die Abbilder schärfer werden und auch dickere Proben durchleuchtet werden können. Außerdem steigert sie die zeitliche und räumliche Genauigkeit. „Mit unseren neuesten Entwicklungen zur Herstellung von intensiven nur Femtosekunden kurzen Elektronenpulsen wird Regae die direkte Beobachtung der Bewegungen von Atomen auf dieser Zeitskala ermöglichen", betont Miller. „Das Molekülkino kann jetzt alle Schauspieler, also die Atome, in voller Aktion filmen – sogar die, die sich ganz schnell bewegen!“
TM/PH