Röntgenlicht identifiziert vielversprechende Kandidaten für Covid-Medikamente
Umfangreiches Röntgenscreening zeigt Bindung an Schlüsselprotein des Virus
Im Gegensatz zu Impfstoffen, die gesunden Menschen helfen, sich gegen das Virus wehren zu können, werden in der Wirkstoffforschung Medikamente gesucht, die bei erkrankten Personen die Vermehrung des Virus im Körper bremsen oder zum Erliegen bringen. Viren können sich allein nicht vermehren. Sie schleusen stattdessen ihr eigenes Erbgut in die Zellen ihres Wirts ein und bringen diese dazu, neue Viren herzustellen. Dabei spielen Proteine wie die Hauptprotease des Virus eine wichtige Rolle. Sie zerschneidet Proteinketten, die nach dem Bauplan des Viruserbguts von der Wirtszelle hergestellt wurden, in kleinere Teile, die für die Vermehrung des Virus notwendig sind. Gelingt es, die Hauptprotease zu blockieren, lässt sich der Zyklus unter Umständen unterbrechen; das Virus kann sich nicht mehr vermehren, und die Infektion ist besiegt.
Die Strahlführung P11 von DESYs Forschungslichtquelle PETRA III ist auf strukturbiologische Untersuchungen spezialisiert. Hier lässt sich die dreidimensionale räumliche Struktur von Proteinen atomgenau darstellen. Dies nutzte das Forschungsteam um DESY-Physiker Alke Meents, um mehrere tausend bekannte Wirkstoffe darauf zu untersuchen, ob und wie sie an die Hauptprotease „andocken“ – der erste wichtige Schritt, um sie zu blockieren. Wie der Schlüssel in ein Schloss passt dabei das Wirkstoffmolekül in ein Bindungszentrum der Protease. Da es sich um bereits für die Behandlung von Menschen zugelassene Wirkstoffe oder solche, die sich zurzeit in verschiedenen Erprobungsphasen befinden, handelt, könnten geeignete Kandidaten zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 daher erheblich schneller in klinischen Studien eingesetzt werden und so Monate oder Jahre der Wirkstoffentwicklung sparen.
Die technische Spezialausrüstung an der PETRA III-Station P11 beinhaltet einen vollautomatischen Probenwechsel mit einem Roboterarm, so dass jede der über 7000 Messungen nur etwa drei Minuten dauerte. Mit Hilfe einer automatisierten Datenanalyse konnte das Team schnell die Spreu vom Weizen trennen. „Mit Hilfe eines Hochdurchsatzverfahrens haben wir insgesamt 37 Wirkstoffe finden können, die eine Bindung mit der Hauptprotease eingehen“, sagt Meents, der die Experimente initiierte.
Es war ein komplexer Prozess, sagt Lourdu Xavier, ein Co-Autor der Studie von der International Max Planck Research School IMPRS-UFAST am MPSD: „Der schwierigste Teil war das Screening von über 6000 Medikamenten mit der Einkristall-Screening-Methode. Mehrere Dutzend Leute arbeiteten einige Wochen lang rund um die Uhr, um Kristalle zu züchten, sie mit Medikamenten zu tränken, heruaszufischen, einzufrieren und die Kristalle in die Roboter-Station für das Röntgen-Screening zu laden. Es war ein Marathon, ein Staffellauf und eine fantastische Teamleistung.
„Ich bin froh, dass wir mehrere gebundene Medikamente gefunden haben. Mit diesen spannenden Ergebnissen, die in die präklinische Erprobung eingehen, sind wir außerdem gut gerüstet, um tiefere Einblicke in die Raumtemperaturdynamik des allosterischen Wirkstoffbindungsmechanismus mit XFEL-Pulsen zu erhalten, die Millionen von Beugungsmustern in kurzer Zeit erzeugen können."
In einem nächsten Schritt untersuchten die Forscherinnen und Forscher am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, ob diese Wirkstoffe in Zellkulturen die Virusvermehrung hemmen oder gar verhindern, und wie verträglich sie für die Wirtszellen sind. Hierbei reduzierte sich die Zahl der geeigneten Wirkstoffe auf sieben, von denen zwei besonders hervorstachen. „Die Wirkstoffe Calpeptin und Pelitinib zeigten die deutlich höchste Antiviralität bei guter Zellverträglichkeit. Unsere Kooperationspartner haben daher bereits präklinische Untersuchungen mit diesen beiden Wirkstoffen begonnen“, erklärt DESY-Forscher Sebastian Günther, Erstautor der Science-Veröffentlichung.
In ihrem Wirkstoffscreening mit Hilfe der Proteinkristallographie untersuchten die Forschenden nicht wie üblich Fragmente potenzieller Wirkstoffe, sondern vollständige Wirkstoffmoleküle. Dabei entdeckte das Team aus mehr als 100 Wissenschaftlerinnnen und Wissenschaftlern aber auch etwas komplett Unerwartetes: Es fand eine Bindungsstelle an der Hauptprotease, die bis dahin noch völlig unbekannt war. „Es war nicht nur eine positive Überraschung, dass wir eine neue Bindestelle für Medikamente an der Hauptprotease entdecken konnten – ein Ergebnis, das man wirklich nur an einer Synchrotronlichtquelle wie PETRA III erzielen kann –, sondern dass sogar einer der beiden heißen Wirkstoffkandidaten genau an diese Stelle bindet“, sagt Christian Betzel von der Universität Hamburg, Mitinitiator der Studie.
„Selbst wenn die beiden aussichtsreichsten Kandidaten es nicht in klinische Studien schaffen sollten, so bilden die 37 Stoffe, die an die Hauptprotease binden, eine wertvolle Datenbasis für darauf aufbauende Medikametenentwicklungen,“ erläutert Patrick Reinke, DESY-Forscher und Koautor der Veröffentlichung.
An der Studie waren Forscher von DESY, dem MPSD, den Universitäten Hamburg und Lübeck, dem Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, dem Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie, dem Heinrich-Pette-Institut, dem European XFEL, dem Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie EMBL, der Max-Planck-Gesellschaft, dem Helmholtz-Zentrum Berlin und weiteren Institutionen beteiligt. Neben den Experimenten an der Messstation P11 wurden auch Messungen an den EMBL-Messplätzen P13 und P14 an PETRA III durchgeführt.