Elektronen als Kollektiv oder unabhängig – das liegt bisweilen am Standpunkt des Betrachters

Durch Absorption von Licht kann einem Material Energie zugeführt werden. Die Elektronen des Materials können kollektiv oder unabhängig voneinander darauf reagieren. Dabei sollte das dominierende Verhaltensmuster nicht von der Perspektive abhängen. Bei Verbindungshalbleitern erhält man jedoch überraschenderweise divergente Antworten; abhängig davon, welcher atomare Bestandteil dazu befragt wird. Beide Perspektiven sind nötig, um neue Materialien für Anwendungen in der Elektronik optimieren zu können.

Die elektronischen Eigenschaften von Halbleitermaterial, das aus verschiedenen chemischen Elementen zusammengesetzt ist, sogenannten Verbindungshalbleitern, ergeben sich aus eben dieser Kombination von Atomsorten. Dabei sind es die Bindungen zwischen den Atomen, welche die Gesamteigenschaften des Materials prägen und nicht die atomaren Spezies selbst.

Unerwarteterweise erhielten Forschende am Departement Physik der ETH Zürich gegensätzliche Antworten, als sie untersuchten, wie sich die Elektronen des Verbindungshalbleiters MoSe2 innerhalb von wenigen Femtosekunden (1 Femtosekunde = 10-15 s) nach der Absorption eines kurzen Impulses aus Infrarotlicht verhalten [1]. Die jeweiligen Antworten waren davon abhängig, ob die Messung via Mo- oder via Se-Atome stattfand.

Absorbiert ein Material Licht, reagieren die Elektronen als seine leichtesten Bestandteile als erstes. In Folge können verschiedene Prozesse ablaufen. So können die Elektronen zum Beispiel bislang unbesetzte Energiezustände einnehmen und ihre davor besetzten Plätze freigeben. Dabei agieren die Elektronen unabhängig voneinander. Oder aber sie scharen sich mehr oder weniger um die positiven Atomkerne und beeinflussen, wie diese positiven Ladungen auf die Gesamtheit der Elektronen wirken. Ursache und Wirkung von diesem Vorgang ist nur verständlich, wenn die Elektronen kollektiv betrachtet werden.

Ob nun die unabhängigen oder kollektiven Prozesse dominieren, wird vom Material bedingt. So sind in Übergangsmetallen die kollektiven Effekte besonders wichtig [2], während in einfacheren Metallen (wie z.B. Aluminium) die Elektronen als unabhängig betrachtet werden können [3]. Genauso dominieren in Halbleitern in der Regel Prozesse, in denen die Wechselwirkung zwischen den Elektronen keine wichtige Rolle einnimmt

Wie untersucht man nun, wie die Elektronen auf die Absorption von Infrarotlicht reagieren? Nur Femtosekunden nach dem Auftreffen des Infrarotimpulses, sendet man einen zweiten Lichtpuls im extremen Ultraviolett auf die Probe. Ultraviolettphotonen weisen sehr hohe Energie auf. Somit kann der zweite Puls nun Elektronen von tiefliegenden atomaren Energieniveaus in die wichtige Energieregion der interatomaren Bindungen befördern.

Hat der vorangegangene Infrarotpuls ein Elektron aus einem Energiezustand entfernt, wird nun Platz frei für das vom Ultraviolettpuls angeregte Elektron. Das kann man im Experiment durch eine erhöhte Absorption von extremem Ultraviolettlicht in einer charakteristischen Spektralregion feststellen. Ähnlich bewirken auch die kollektiven Prozesse eine charakteristische Absorptionsänderung für den Ultraviolettpuls.

Dass sie im Verbindungshalbleiter MoSe2 die Energieregion der Bindungen simultan sowohl via eines tiefliegenden Energieniveaus der Mo-Atome als auch eines Niveaus der Se-Atome beobachten konnten, nutzten Zeno Schumacher, ehemaliger Postdoktorand am Institut für Quantenelektronik der ETH Zürich und seine Mitautoren - darunter MPSD-Theoretiker Shunsuke Sato und Angel Rubio - in einer Studie. Die spektral sehr breitbandigen Ultraviolettpulse ermöglichten, die Signale der beiden Atomsorten energetisch voneinander zu trennen.

Zur grossen Überraschung der Studienautoren zeigte das Mo-Signal ganz klar eine Signatur, die durch kollektive Prozesse dominiert ist. Dagegen suggeriert das Se-Signal, dass die Elektronen in diesem Material unabhängig agieren. Obwohl die elektronischen Eigenschaften von MoSe2 durch die Bindungen aus Mo- und Se-Atomen, zu denen beide Elemente gleichermassen beitragen, bestimmt sind, zeigt das Material gegensätzliche Gesichter, abhängig davon, über welchen atomaren Bestandteil man es betrachtet.

Auch wenn das Material MoSe2 zu den Halbleitern gehört, übertragen sich die bereits aus reinen Übergangsmetallen bekannten kollektiven Effekte [2]. Die Autoren von der ETH Zürich und dem Max-Planck-Institut für die Struktur und Dynamik der Materie folgern aus theoretischen Überlegungen, dass dies auch in anderen Verbindungen aus Übergangsmetallen und Nichtmetallen der Fall sein sollte.

In ähnlichen Experimenten in der Vergangenheit wurde oft nur das Signal von einer beteiligten Atomsorte betrachtet. Die neue Studie zeigt aber, dass eine Perspektive nicht ausreicht, um das Verhalten des kompletten Systems verstehen zu können. Beide «Gesichter» von MoSe2 sind ein integraler Bestandteil seines elektronischen Charakters.

In der Halbleitertheorie werden Elektronen heute in der Regel sehr erfolgreich unter Annahme einer sogenannten effektiven Masse beschrieben. Die effektive Masse fasst die Auswirkungen der Umgebung der Elektronen auf deren Bewegungen unter Einfluss von einwirkenden Kräften in einer Korrektur ihrer Masse zusammen. Das Konzept der effektiven Masse impliziert aber, dass sich Elektronen unabhängig voneinander bewegen. Die hier präsentierte Arbeit zeigt nicht zuletzt, dass dies nur eine unvollständige Beschreibung ihres Verhaltens darstellt.

Ein häufiger Kritikpunkt an vergleichbaren laserbasierten Studien ist, dass die Bedingungen, denen das Material ausgesetzt wird, nicht vergleichbar ist mit jenen, denen es bei Wechselwirkung mit alltäglicheren Lichtquellen wie z.B. Sonnenlicht oder Licht von Leuchtdioden oder Glühbirnen ausgesetzt wäre. Die von den Autoren präsentierte theoretische Analyse zeigt aber, dass das Experiment ausschliesslich mit einer vom Infrarotlicht herbeigeführten Erhöhung der Elektronentemperatur erklärt werden kann. Daraus schliessen sie, dass sich ihre Ergebnisse auch auf weniger intensive Lichtquellen übertragen lassen sollten. Dies ist relevant, da die Familie der Verbindungshalbleiter, aus der MoSe2 stammt, vielversprechende Kandidaten für zukünftige Anwendungen in Optoelektronik und Elektronik darstellen. Das genauere Verständnis dieser Materialien hilft bei deren gezielten Optimierung für diese Aufgaben.

Von L. Gallmann / K. J. Kessler (ETH Zurich) and J. Witt (MPSD).

 

[1] Z. Schumacher, S. A. Sato, A. Niedermayr, L. Gallmann, A. Rubio, U. Keller, "Ultrafast electron localization and screening in a transition metal dichalcogenide", Proc. Natl. Acad. Sci. 120(15), e2221725120 (2023), doi: 10.1073/pnas.2221725120

[2] M. Volkov, S. A. Sato, F. Schlaepfer, L. Kasmi, N. Hartmann, M. Lucchini, L. Gallmann, A. Rubio, U. Keller, "Attosecond screening dynamics mediated by electron-localization in transition metals", Nature Phys. 15, 1145-1149 (2019), doi: 10.1038/s41567-019-0602-9

[3] A. Niedermayr, M. Volkov, S. A. Sato, N. Hartmann, Z. Schumacher, S. Neb, A. Rubio, L. Gallmann, U. Keller, "Few-femtosecond dynamics of free-free opacity in optically heated metals", Phys. Rev. X 12, 021045 (2022), doi: 10.1103/PhysRevX.12.021045

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